Vorhin stellte ich ein Interview mit Robert Betz ein, in dem er gegen Ende ein persönliches Erlebnis an der Hotelrezeption erzählte. Man sollte meinen, einem Therapeuten und Coach seines Kalibers, müssten die Menschen nur noch Freude und Liebe entgegenspiegeln 😉 Aber auch er hat heute noch sogenannte “Knöpfedrücker” in seinem Leben – das war die Frage der Moderatorin. Seine stille Reaktion darauf wunderte mich aber. Er akzeptierte scheinbar wortlos die unfreundliche Art des Gegenübers – zumindest erwähnte er nichts weiter davon in der Erzählung. Das bewegte mich dazu einen Beitrag zu schreiben.
Wir wissen ja nicht, was da im Mitmenschen gerade los ist.
Brauchen wir es zu wissen? Gute Frage.
Es mag helfen, dem ganzen auf den Zahn zu fühlen und die Person direkt darauf anzusprechen – denn schließlich verbreitet diese gerade eine negative/toxische Stimmung. Und manchmal hilft es, mit Humor zu reagieren oder etwas Aufmunterndes zu sagen. Das lockert die Stimmung sofort und hebt die Schwingung, wenn dadurch ein Lächeln entstehen konnte auf beiden Seiten. Es kommt auf die jeweilige Situation an. Mit einem Witz wäre ich bei meinem Erlebnis völlig daneben gelegen:
Vor Kurzem hatte ich so einen schlechte-Laune-Fall im Gärtnerladen. Und es störte mich dermaßen, da ich mich freute, mal richtig gut drauf und sportlich zu sein (ich war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen). Es verdarb mir den Einkauf dort – von der energetischen Wirkung auf das Gemüse, mal ganz abgesehen. Jedenfalls sprach ich die Verkäuferin dann an der Kasse direkt an. “Sie sind heute aber nicht gut gelaunt.” Die Frau zögerte kurz, dann antwortete sie unemotional: Tut mir ja leid, normalerweise bin ich nicht so aber ich habe unglaublich starke Kopfschmerzen. Ihre Körperhaltung war eher abweisend mir gegenüber. “Ja, das merkt man.” sagte ich noch. Uuups. Ich dachte, es kämen Worte des Mitgefühls aus mir – aber Pustekuchen. Schon waren sie gesprochen. Ich dachte aber auch, sie freute sich vielleicht, dass sie ihr Befinden endlich jemanden mitteilen könnte als so tun zu müssen, als sei alles bestens mit ihr. Aber nein, sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und so wandte sie sich schnell ab. Weitere Kunden kamen in den Laden und ich wünschte ihr dann nur noch laut: GUTE BESSERUNG!
Und sogar dieser Wunsch hatte einen gewissen Unterton, der mich selbst überraschte. Eigentlich hätte ich sie gerne noch angesprochen auf die starken Kopfschmerzen und nachgefragt, ob sie oft vorkämen und ob sie den Zusammenhang mit den Injektionen kenne. Ich glaube, mein “Ich” bemerkte rasch, das dieser Mitmensch keiner von der Sorte ist, der dies hören wollte und daher meine entsprechende Re-Aktion. Wenn sie nicht will, dann eben nicht….
Das eigene Leid wird als zwangsläufiges Opfer akzeptiert. Nur die Schwachen jammern.
Ich muss vielleicht erwähnen, dass ich mit dieser noch sehr jungen Dame kurze Zeit vorher telefonierte (zumindest der Stimme und meiner Intuition nach, ordnete ich sie zu) Es ging um einen Nebenjob im Laden und sie erzählte mir am Telefon, dass sie so viele Krankheitsstände hätten seit Wochen – wegen Corona. In der ganzen Pandemie war es nie so schlimm gewesen, wie jetzt. Sie lachte etwas müde dabei. Wer hätte das schon wissen können….nicht wahr? WIR ahnten es, aber niemand wollte uns zuhören.
Manchmal möchte man ja gerne helfen – nur wenn der Mitmensch nicht möchte, sollte man es auch nicht erzwingen. Außer die eigene (Helfer-)Seele besteht darauf, dann ist ein größerer Seelenwunsch des Gegenübers im Unbewussten vorhanden – den derjenige selbst aber nicht erkennt. Das spürt man dann aber sehr eindeutig – man bleibt dann hartnäckig dran und lässt nicht locker.
Es kann so erlösend und heilsam sein, sich gehört, gesehen, verstanden zu fühlen
Endlich bemerkt mal jemand, wie schlecht es mir heute geht und sieht, dass ich trotzdem hier stehe und arbeite. Ein kleiner Trost, sollte man meinen, oder?
Ich erwähne das, weil es manchmal dem ANDEREN helfen kann, unangehme Dinge direkt anzusprechen. Das klingt erstmal paradox, denn es ist eine Art Konfliktpotential dabei. Wer möchte schon auf eigene Schwächen angesprochen werden? Blinde Flecken bei mir? Never. Es liegt Ärger in der Luft. Wozu sollte das bitte MIR dienlich sein?! Stimmt schon, aber alles wirkt (nach). Ich habe das schon so oft erlebt – auch dann erst Nachts auf der Traumebene. Das sind dann diese Morgenerlebnisse, wenn man plötzlich etwas verstanden hat oder weiß, was zu tun ist beim Aufwachen. Kennt ihr das?
Und wer weiß…vielleicht haben meine Worte doch im Nachgang etwas bewirkt bei ihr. Und so kann JEDER Versuch heilsam sein, wenn er auch noch so kurz oder belanglos für einen selbst erscheint.
Manchen ist es zu peinlich, sich schwach zu zeigen, weil sie so ehrgeizig sind und hart mit sich selbst umgehen – und ich spreche hier auch aus eigener Erfahrung. Gerade Frauen betrifft dieses Phänomen oft. Ja, wir sehen in unserem Tunnelblick überhaupt nicht, wie sehr wir uns selbst damit schaden UND unser Umfeld beeinflussen durch unser Leiden und den Schmerz.
Falsches Ehr- oder Pflichtgefühl, die Vorstellung unentbehrlich zu sein oder emanzipiert sein zu wollen – hält uns vom Zugang zu unseren eigenen Gefühlen und Befindlichkeiten ab. Der alte Spruch trifft es da ziemlich gut:
Wer nicht hören will, muss fühlen
Oder mit Worten der Bibel_ Jeremia 22,21:
Ich habe dir’s vorher gesagt, als es noch gut um dich stand; aber du sprachst: «Ich will nicht hören.» So hast du es dein Lebtag getan, daß du meiner Stimme nicht gehorchtest.
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Viele werden erst durch schmerzhafte, eigene Erfahrungen schlauer werden. Und das gilt in diesen Krisen- und Wandelzeiten mehr als zuvor.
Titelbild: Privat, Eichenbaum – Juni 2022